Alex Capus: Léon und Louise

Unglaublich perfekt

(Alex Capus: Léon und Louise, Roman, Verlag Carl Hanser, München 2011, als Taschenbuch dtv München 2012, 315 Seiten, 10.90 Euro)

Alex Capus (gesprochen Kapü), der Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin, 1961 in Frankreich geboren, lebt in der Schweiz. Er hat als Journalist in der Schweiz gearbeitet, ehe er sich mit Romanen, Kurzgeschichten und Biografien als Schriftsteller etabliert hat. Diesen Sprung vom Zeitungsschreiber zum Bücherschreiber merkt man dem Roman über ein Dreiecksverhältnis, „Léon und Louise“, noch an.

Ausführliche Beschreibungen von Umständen und Gegenständen, die dann doch keine Rolle spielen, erinnern weniger an eine Wiederbelebung der Kunstgriffe des Nouveau Roman als an den Begriff Zeilenhonorar. Dazu passt eine auffällige Vorliebe für das schmückende Adjektiv. Nur ein Beispiel: „Auf dem Quai sah man keine weißen Sonnenschirmchen, keine rosa Bottinen und keine gleißenden Gamaschen mehr, sondern verhutzelte Möwen, struppige Hunde und eine Horde barfüßiger Buben, die mit einer leeren Dose Fußball spielten.“

Und es gibt Ungenauigkeiten, so dass die „deutschen Soldaten ihre Stiefel schnürten“, was nicht möglich ist und wohl auf einer Verwechslung mit den österreichischen Soldaten beruht, die von den Deutschen scherzhaft „Kamerad Schnürschuh“ genannt wurden. Auch gehört Dresden nicht in die Aufzählung der bereits 1944 von Bombern zerstörten deutschen Großstädte, weil Dresden erstaunlicherweise erst im Februar 1945 zerstört wurde. Und dann die immer mal wieder reingerutschte saloppe Zeitungssprache: „… während in knapp hundert Kilometern Entfernung komplette Jahrgänge junger Männer erschossen, vergast und durch den Fleischwolf gedreht wurden.“

Der kritische Journalist Capus zeigt sich auch in der Definition, die er im Roman für den „Service des Etrangers“ gibt: „Die Abteilung zur Kontrolle von Ausländern und Flüchtlingen hatte weit über die Landesgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt als das Ministerium der Schande. Sie bestand aus einer Hundertschaft kleiner Beamter, deren ausschließliche Aufgabe es war, sämtliche Flüchtlinge und Vertriebenen, die im Land der Menschenrecht Zuflucht suchten, zu bespitzeln, zu kontrollieren und zu drangsalieren und ihnen den Weg zur dauerhaften Aufenthaltsbewilligung möglichst schwer zu machen.“

An entscheidenden Stellen geht der Schreiber zudem über offensichtliche Unglaubhaftigkeit hinweg, ohne sich die Mühe einer Unterfütterung zu machen. So, wenn Louise sich nach glücklichen Stunden mit Léon ohne jeden Grund oder Anlass von ihm verabschiedet, was für immer sein soll. Oder wenn der deutsche Besatzungsoffizier den der Arbeitsverweigerung überführten Léon nicht bestraft, im Gegenteil sogar beschenkt, obwohl er nichts von ihm hat. Unglaubwürdig bleibt auch, dass die als gescheit geschilderte Louise den Umfang und das Versteck des gigantischen Goldschatzes ausplaudert, per Brief, der aus Afrika auf unsicherem Weg in das besetzte Paris geschickt wird. Und die deutschen Besatzungssoldaten treten in Paris als Wesen von engelgleicher Freundlichkeit auf, was sich nur damit erklären lässt, dass das Buch für den deutschen Markt geschrieben ist.

Andererseits bietet der Romancier Alex Capus auch überlegen ironische Passagen, die Freude machen, zum Beispiel: „Aber wie überall auf der Welt gab es im vermeintlichen Künstlertreff längst keine Künstler mehr, weil diese vor den allzu Lebenstüchtigen quer über den Platz ins Café du Commerce geflohen waren. Dort saß nun nach dieser Rochade die lokale Bohème Abend für Abend in sicherer Entfernung zur Bourgeoisie, langweilte sich genauso wie diese und litt an der unleugbaren Tatsache, dass auch das Künstlerleben bei Weitem nicht so lustig und abwechslungsreich ist, wie es gerechterweise sein müsste.“

An anderer Stelle heißt es: „Damals hatte er sich die überlebenswichtige Geschmeidigkeit des routinierten Pendlers angeeignet, der in der dichtesten Menschenmenge ohne Drängeln und Rempeln seinen Weg findet und dem Nebenmann stets höflich den Vortritt lässt, ohne dabei zu erkennen zu geben, dass er ihn überhaupt bemerkt hat.“

Die Katastrophe der Besetzung Frankreichs leitet der Autor mit dem Satz ein: „Als die Panzerkolonnen auch bei Sedan die Sperren durchbrachen, setzte in Paris ein allgemeines Rette-sich-wer-kann ein, das angeführt wurde von der Regierung und ihren Generälen und Ministern und den Industriellen, die sich mit den Löhnen der Arbeiter davonmachten, gefolgt von den Parlamentariern und Beamten und Speichelleckern, den Diplomaten und Geschäftsleuten und Arschkriechern sowie den Trümmern der Armee, dann auch der schönen Welt der Journalisten, Künstler und Gelehrten, die sich zum Wohle der Humanität und im Interesse der Zukunft ebenfalls verpflichtet fühlen, mit allen Mitteln und in allerhöchster Priorität ihre eigene Haut zu retten.“

Es handelt sich hier um einen Liebesroman, deshalb darf der Autor auch einmal sehr direkt werden. Im Brief der nach Afrika geflohenen Louise an ihren fernen ehemaligen Geliebten heißt es: „Die Liebe ist doch eine Anmaßung, nicht wahr? Besonders wenn sie schon ein Vierteljahrhundert dauert. Möchte zu gern wissen, was das ist. Eine hormonelle Dysfunktion zwecks Reproduktion, wie die Biologen behaupten? Seelentrost für kleine Mädchen, die ihren Papa nicht heiraten durften? Daseinszweck für Ungläubige? Das alles zusammen, mag sein. Aber auch mehr, das weiß ich.“

Dieses Mehr wird den Lesern nicht mitgeteilt. Das ist also die klassische Aufforderung zum Weiterdenken. Der Autor schildert ein ungewöhnliches Dreiecksverhältnis in noch viel ungewöhnlicherer Zeit, nämlich in zwei Weltkriegen, die er als Folien hinter der Handlung ausbreitet. Dabei vermeidet er alle Deutungen und Aufklärungsversuche oder Hilfetipps für derartige oder ähnliche Problemfälle der Liebe. Er überlässt es stattdessen den Lesern, sich über die Verrücktheit des Lebens zu wundern – und zu amüsieren. Und die Tatsache, dass die Schilderung der sehr ungewöhnlichen Leben von Léon und Louise und Yvonne – die auf die Konkurrentin so klug reagierende Ehefrau gehörte eigentlich mit in den Buchtitel – mit einer Totenfeier begonnen hatte, wird freundlicherweise am Ende nicht noch einmal aufgegriffen. Auch diese Rücksicht auf die Leserpsyche gehört zu der hier vorgeführten perfekten Rezeptur eines Bestsellers: Nicht schwergewichtig, aber scheinbar sehr wichtig, dabei ungewöhnlich orchestriert und selbstverständlich mit Happy End.

(Walter Laufenberg in: www.netzine.de)

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