802. Ausgabe

Passiertes! -Passierte es?

Passiertes! – Passierte es?

Nach dem Massenmord in Neuseeland haben Redakteure von Spiegel Online sich klar distanziert von der Veröffentlichung der Videoaufnahmen, die der Täter gemacht hat. Und sie haben es vermieden, den Täter durch Nennung seines Namens berühmt zu machen, haben statt dessen Namen, Fotos und Lebensumstände einiger seiner Opfer veröffentlicht. Eine Wohltat, dass Journalisten verstanden haben, um was es einem Massenmörder geht, nämlich um sein Ich. Mehr dazu unter dem Stichwort Herostrat hier im NETZINE in „Laufenbergs Läster-Lexikon“.

Diese von der neuseeländischen Ministerpräsidentin angeregte Melde-Diät hat leider nicht lange vorgehalten. Inzwischen kann man nur noch bedauernd feststellen, dass der Massenmörder von Christchurch sein Ziel erreicht hat. Er ist auf Kosten von ihm unbekannten Menschen eine Berühmtheit geworden. Weltweit bemühen die Sprecher in Funk und Fernsehen sich auch noch, seinen Namen korrekt auszusprechen, und das so oft wie möglich. Ein Aufmerksamkeitsgewinn, den ich mit ehrlicher Arbeit niemals erzielen kann.

Sprachreichtum? In Deutschland gibt es neben der Landessprache Deutsch und der Sprache der Möchtegerns Denglisch sowie diversen Dialekten auch die seit dem Jahre 2002 offiziell anerkannte Deutsche Gebärdensprache, die von etwa 80 000 gehörlosen Menschen genutzt wird. Dagegen gehören die von Politikern gern verwendeten sinnleeren Worthülsen nicht zum Sprachreichtum, stehen eher für die Tendenz zur Einführung des uns von George Orwell in seinem Roman „1984“ angedrohten Idioms Neusprech.

Morgendämmerung oder nur neue Geldverschwendung? In Paris haben 50 Abgeordnete der französischen Nationalversammlung und 50 deutsche Bundestagsabgeordnete eine Parlamentarische Versammlung gegründet, die Europa enger zusammenführen soll. Dahinter steht der Wunsch der französischen Regierung nach einer einheitlichen EU-Finanzpolitik. Die lehnt die deutsche Regierung ab, weil sie dazu führen würde, dass Deutschland für die Schulden aller anderen EU-Mitglieder zahlen muss. Ebenso kategorisch lehnt Frankreich die deutsche Forderung einer Europäisierung des ständigen Sitzes Frankreichs im UN-Sicherheitsrat und der Aufgabe des überflüssigen EU-Parlamentssitzes in Straßburg ab. Beide Länder stehen dabei mit dem Rücken an der Wand. Das ist wesentlich anders als der Beginn von Tarifverhandlungen, wenn beide Seiten wissen, dass sie ihre übertriebenen Forderungen nur zum Teil durchdrücken können. Bei dem deutsch-französischen Zwist geht es für beide Seiten um die Existenz, weswegen keine schrittchenweise Annäherung möglich ist.  

Spitzenpolitiker sind wie diese lästigen Phänomene Hochdruck oder Sturmtief, die in den Wetterberichten stets dreimal auftreten, zunächst als Ankündigung, dann als die Aktualität und schließlich als Erwähnung eines überwundenen Zustandes. Selbst halten sie sich aber für sehr wichtig.

Ganz allmählich setzt sich die Erkenntnis durch: Umweltschädling Nr. 1 ist nicht die Ratte, auch nicht ein Pilz oder eine Mikrobe. Der Umweltschädling Nr. 1 ist eindeutig der Mensch. Doch mit dieser resignierenden Feststellung hat es sich dann auch. Dabei gibt man damit einen naiven Glaubenssatz der Psychobastler auf. Denn die zugemüllte Umwelt an Land und auf See sowie im Weltall zeigt uns seit Jahren: Selbsterkenntnis ist durchaus nicht der erste Schritt zur Besserung. Vermutlich bedarf es dazu einer gewaltigen Katastrophe.

Die Mitternacht bringt’s an den Tag. Scheinbar waren sie das ideale Ehepaar. Doch dann saßen sie eines abends zu lange zusammen und unterhielten sich und bemerkten auf einmal, dass Mitternacht war. Schon 24 Uhr, sagte sie. Nein, null Uhr, entgegnete er. Nein. Doch. Nein. Doch. Daraus entwickelte sich ein veritabler Streit, der sogar zu Blauen Flecken führte und schließlich zur Trennung. Und das nur, weil die beiden zu spät erkannt hatten, wie krass unterschiedlich sie waren. Er war der Progressive, dazu ein Optimist, deshalb war für ihn erst null Uhr. Sie war die Konservative, dazu eine Pessimistin, weswegen für sie schon 24 Uhr war.

Habe im ICE klammheimlich notiert, mit dem Kugelschreiber auf einem Blättchen Papier, dass ich bei meinen früheren Fahrten zur Leipziger Buchmesse auf den vier Stunden Hinfahrt genau wie auf den vier Stunden Rückfahrt immer interessante Gesprächspartner hatte. Diesmal aber fühle ich mich in dem Großraumwagen voll verkabelter Menschen, die auf ihr Smarty oder ihren Laptop oder ihr Tablett starren, wobei manche leise endlos vor sich hin brabbeln, wie auf einem fremden Stern gelandet. Auf einem, der Kommunikation so ernst und wichtig nimmt, dass ich mir sehr vereinsamt vorkomme.

Treffsicher in die Zeit der diesjährigen Leipziger Buchmesse hinein ist vor zweihundert Jahren, am 23. März des Jahres 1819, der Bestsellerautor August von Kotzebue gestorben. In Mannheim von Mörderhand umgebracht. Fast möchte man sagen: Der Autor wusste immer, was das Publikum braucht. Deshalb ist er von der Literaturwissenschaft als ein Produzent von Trivialliteratur dem Vergessen anheim gegeben worden. Aber man täusche sich nicht. Immerhin hat selbst Goethe sich so für Kotzebues Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“ begeistert, dass er es im renommierten Weimarer Hoftheater inszeniert hätte, wenn es nicht zu einem kleinlichen Streit gekommen wäre. Das extrem unordentliche und aufregend interessante Leben des Publikumslieblings August von Kotzebue sowie seine Ermordung habe ich ausführlich dargestellt in dem akribisch recherchierten historischen Roman „Hotel Pfälzer Hof“, Verlag Regionalkultur, Heidelberg 2006. Überall im Handel erhältlich. Hier im NETZINE mit Leserkommentaren vorgestellt unter www.netzine.de/library/walter-laufenberg/hotel-pfaelzer-hof/

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